Was ist Stimmführung (voiceleading)?
Die meisten Menschen nähern sich der Musik tonal. Man lernt bereits in der Schule die Notennamen, singt Lieder und beginnt vielleicht mit dem Erlernen einzelner Melodien auf einer Flöte oder einem Glockenspiel. Dies ist im Grunde für JEDEN gesunden Menschenverstand keine besondere Herausforderung.
Der wesentliche Punkt ist die einstimmige Melodieverarbeitung. Diese erfolgt seriell (nacheinander) in quasi kleinen Häppchen. Dies betrifft nahezu alle Blasinstrumente, eingeschränkt alle Streichinstrumente (hier ist auch zweistimmiges Spiel möglich) sowie den Gesang.
Im Gegensatz dazu ermöglichen Zupf- und Tasteninstrumente das mehrstimmige Spiel (Anspielen mehrerer Töne gleichzeitig). Und damit fangen dann die ersten Probleme für den menschlichen Geist an. 😉
Die Mehrstimmigkeit (Harmonik) fordert nun schnell exponentielle Aufmerksamkeit. Während in der klassischen Musik und im Rock/Pop in der Regel Drei- und maximal Vierklänge Verwendung finden, steigert es sich im Jazz bis hin zu Siebenklängen (z.B. G13).
Wenn man nun bei der erlernten Tonalitätssichtweise verharrt, muss man bei jedem neuen Akkord (Mehrklang) alle Töne berechnen (immer 3 oder 4 unterschiedliche Töne plus Basston). Erschwerend kommt dazu, dass es ja noch die jeweiligen Umkehrungen gibt (wodurch man die Möglichkeiten mit 3 oder 4 multiplizieren muss) sowie die Tatsache, dass man meist visuell (beim Klavier vom Daumen ausgehend von innen nach außen) mit den musikalisch unbedeutenderen Tönen startet. Musikalisch sind es nämlich gerade die äußeren Töne (beim Klavier häufig der kleine Finger) die von entscheidender Bedeutung sind: Oben der Melodieton und unten der Basston. Alle anderen sind nur Füllstimmen, also musikalisches Beiwerk!
Grafisch vereinfacht ausgedrückt: Tonalität betrachtet die Noten immer vertikal. In den ersten Takten von Autumn Leaves wären dies (ohne Haltebögen) 6×5 Töne sowie die 4 Töne des Schlussakkords = 34 Töne:
Ändert man nun seine Sicht- und Spielweise in die quasi horizontale Sicht reduziert sich der Rechenaufwand bereits deutlich.
Man stelle sich einen 5stimmigen Chor vor. Jeden Sänger interessiert zunächst der Ausgangston (wird vom Dirigenten vorgesummt) und anschließend nur noch, welche Tonhöhen-Änderungen sich im Verlauf ergeben. Der Sopran (höchste Stimme) singt letzlich einfach eine Tonleiter abwärts, kommt also mit einer einzigen Info aus!
Auf das Klavier umgerechnet können wir (unter Beachtung der Haltebögen) auch ganz anders denken: rechte Hand 4 Töne, danach wandern die beiden Ober- und Unterstimmen abwechselnd einen Ton nach unten = 5 Infos. Selbst der Schlussakkord fällt in dieses Muster (streng genommen mit dem Ton d als Em7). Eine zusätzliche Info käme dazu, wenn man tatsächtlich die Sexte (wie im Akkordsymbol notiert) spielen würde oder (wie in den Noten) die 4. Note weglassen würde. Maximal hätten wir also 6 Infos statt 34 Tönen!!!
Ja richtig: die linke Hand hat ja auch noch etwas zu spielen. Auch hier würde eine Info reichen, dass die Quintabstände (ab Takt 2) jeweils mitwandern. Auch 7 Infos sind immer noch weniger als ¼ der Tonanzahl…
Nun könntest du scharfsinnig einwerfen, dass man dann ja erheblich mehr Akkordverbindungen lernen müsstest: Am7 nach D7 oder nach G7 oder E7 oder oder oder… Wenn du aber mal ein Dutzend Songs analysierst, wirst du schnell merken, wie wenige davon wirklich oft verwendet werden. Viele klingen einfach viel zu spröde, ungeschliffen und auf so etwas wollen sich nur die wenigsten Menschen einlassen. Selbst Schönberg soll die 12Tontechnik letztlich als Experiment wieder verworfen haben (ich war nicht zugegen).
Auch der B-Teil bedient sich ausnahmslos der bereits bekannten Harmoniefolge (nur 4taktig vertauscht, ohne Cj7):
Im C-Teil haben wir dann ab Takt 3 wirklich mal eine andere Akkordfolge. Letzlich aber auch hier quasi nur eine chromatische Tonleiter abwärts:
Merke:
Je komplexer (mehrstimmiger) Akkorde werden, umso einfacher wird die Stimmführung. Wie das Pendel einer Wage.
Letztlich trifft man nur die Entscheidungen, welche der beiden Sichtweisen aktuell die leichtere ist.